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Es gibt mal wieder keine Alternative – Anmerkungen zu Felicitas Thiel („Die Zeit“ vom 24. Juni 2022)

Mediale Diskussionen über Versäumnisse eines Bildungssystems polarisieren in schöner Regelmäßigkeit. Ebenso vorhersehbar wie diese polemische Verkürzung notwendiger Debatten ist dabei auch die immer wieder zu beobachten Hierarchisierung von schulischen Inhalten, die ebenso regelmäßig in den immer gleichen Appell mündet: Wir müssen priorisieren! So auch der Titel des Interviews mit Felicitas Thiel in der „Zeit“ vom 24.06.2022. 

Es erübrigt sich leider fast zu erwähnen, welchen Fächern in dieser Priorisierung eine bestenfalls untergeordnete Wertigkeit zugestanden wird. Sport, Kunst, Musik oder auch Darstellendes Spiel – immer sind es die scheinbar intellektuell minderwertigen, körperlich akzentuierten Schulfächer, denen eine immanente Minderwertigkeit aufgrund ihrer spezifischen Struktur nahezu unwidersprochen unterstellt wird. 

Diese generalisierte Geringschätzung ist nicht nur substanzlos und subjektiv. Sie offenbart auch profunde Unkenntnis der Gegebenheiten und ein geradezu gefährliches Verständnis von Bildung und der Institution Schule an sich. Wenn Fächer, die das ganzheitliche Lernen mit Herz, Kopf und eben Hand (bzw. dem ganzen Körper) in das Zentrum ihres pädagogischen Ansatzes stellen, ohne näherer Begründung als von sekundärer Relevanz erachtet werden, so zeigt gerade diese Hierarchisierung überdeutlich das eigentliche Problem auf, dass dieser pädagogischen Debatte zugrunde liegt. 

Der gesellschaftliche Stellenwert des Bildungssystems bemisst sich nicht an wohlmeinenden Sonntagsreden, sondern ganz profan an den finanziellen Mitteln, die die relevanten Gremien den betreffenden Institutionen zur Verfügung stellen. Nicht einzelne Fächer oder ein jedes Mal völlig unvermittelt über das System Schule hereinbrechender Lehrermangel (der letztlich ja auch nur aus dieser finanziellen Dezimierung entsteht) sind hierbei in der Verantwortung, sondern politische Entscheidungen, die über Jahrzehnte hinweg sehr bewusst die Kapazitäten und Etats des Bildungssystems immer weiter limitierten. Im Gegenzug dazu wurden die Fächer durch klare Vorgaben im Rahmen der Entwicklung der Kerncurricula in ihrer Gleichwertigkeit gestärkt. Diese Entscheidung nun wieder zurücknehmen zu wollen und damit eben diese Gleichwertigkeit infrage zu stellen, ist nicht nur höchst unangemessen, es zeugt auch von Unkenntnis der bestehenden Problematik.

Das Fach Sport ist somit nicht der teure Luxus, den sich eine optimierte, schlanke Ausbildungs-Schule nicht mehr länger leisten kann, sondern mit seinen Inhalten und Anforderungen als einziges Bewegungsfach wesentlicher Teil des akzeptierten Bildungskanons. Sportunterricht, aber auch alle anderen künstlerisch-musischen Fächer, sind mehr als nur ein dekadenter Luxus eines übersättigten Bildungssystems. Sie sind vielmehr die Basis eines ganzheitlichen Verständnisses von Bildung und Erziehung, das versteht, dass eine Kultur mehr braucht als binomische Formeln und Konditionalsätze. Das Unterrichtsfach Sport wäre somit nur das erste von vielen Fächern, die in einem solchen kurzsichtigen, gefährlichen Verständnis von Bildung und Gesellschaft dem Rotstift zum Opfer fallen würden. 

Eine Schule, die in letzter Konsequenz ausschließlich Mathematik und Deutsch unterrichtet, kann und darf nicht das Produkt eines immer erregter geführten finanziell motivierten Diskurses über Sinn und Unsinn einzelner Fächer sein. Was wir mit einem solchen pädagogischen Offenbarungseid aufgeben würden, wäre mehr als nur ein Schulfach.